Aggression gehört auch dazu.

Das Wort Aggression leitet sich vom lateinischen Verb aggredi ab. Aggredi heißt heranschreiten, sich nähern, angreifen.

Im zwischenmenschlichen Bereich dient aggressives Verhalten dazu, eigene Grenzen vor einer ungewollten Überschreitung durch andere zu schützen. Der Schutz des eigenen Raumes ist wichtig. Denn nur in ihm kann sich die eigene Persönlichkeit frei einwickeln und voll aufblühen. Die Tatsache, daß alles mit allem verbunden ist und somit eine Einheit bildet, heißt ja nicht, daß es ein Einheitsbrei ist, in dem sich das Individuum auflöst, sondern meint im Gegenteil eine vielgestaltige Ganzheit, die durch die individuelle Ausformung des Einzelnen reicher und schöner wird.

Wenn jemand aggressionsgehemmt ist und deshalb eine Verletzung seines Raumes durch andere passiv hinnimmt, kann er sich nicht frei entwickeln. Die aggressive Energie staut sich in ihm, führt vielleicht zu selbstaggressivem Verhalten wie Depression, Krankheit und Sucht. Auch kann das Aufsparen von aggressiver Energie irgendwann zu einer Explosion von Gewalt führen, die dann so groß sein kann, daß sie andere verletzt.

Wenn Aggression dazu genutzt wird, um persönliche Grenzen zu wahren oder wiederherzustellen, ist sie segensreich. Wenn jemand meine Grenze verletzt und ich ihm das klar und deutlich sage, mache ich damit ein Beziehungsangebot. Wenn die Sache geklärt ist, kann die Beziehung unbeschwert von dem Vorfall weitergehen.
Wenn ich mich nicht traue, mich zu wehren, ziehe ich mich automatisch zurück, beginne den anderen zu verurteilen und will bald nichts mehr mit ihm zu tun haben. Aggressives Verhalten führt also in diesem Fall in die Beziehung hinein. Eine Hemmung der Aggression macht einsam.

Es ist nicht angenehm, wenn die eigenen Grenzen verletzt werden. Eine Grenzverletzung ist ein unliebsames Ereignis. Aber wie alles gehören auch die unliebsamen Ereignisse in der Einheit und damit im „circle of all“ dazu. Sie nicht dazugehören zu lassen, sie weghaben zu wollen, sie abzulehnen und die Menschen, durch die Ihnen das unliebsame Ereignis entgegengebracht wird, abzuwerten und verurteilen, führt nicht weiter.
Im Sinne des Prinzips der Einheit zu handeln bedeutet, auch das unliebsame Ereignis, in diesem Fall die Grenzverletzung, als sinnvoll zugehörig anzuerkennen und zu sehen, daß sie etwas bringt, was man selbst zur Ganzheit braucht: Die Übung nämlich sich deutlich und wenn nötig aggressiv abzugrenzen und die Fähigkeit auszubilden, seine Grenzen klar zum machen und zu schützen.

Die Kunst ist, während man sich abgrenzt, um die tiefe Verbindung mit dem anderen zu wissen und ihn auch als Zugehörigen zu achten, auch wenn er im Moment Fehler macht. Im Grunde kann man ihm im Stillen dankbar sein, daß er einem die Chance zur Weiterentwicklung an dieser Stelle bietet.

Natürlich ist die Aggression nicht mehr akzeptabel, wo sie anderen körperlich oder psychisch schadet. Jetzt würde ich gerne sagen, daß solch verletzende Aggression nicht dazugehört. Aber wenn man derzeit in die Welt schaut, muß man wohl oder übel anerkennen, daß sie da ist und offensichtlich weiter zunimmt. Krieg ist ein unliebsames Ereignis. Man könnte jetzt wegschauen oder ihn ablehnen und diejenigen, die ihn uns entgegenbringen, verurteilen oder im Extremfall verteufeln. Doch damit befinden wir uns bereits gedanklich selbst im Krieg und geben uns vielleicht schon die Lizenz zum Töten. Das heißt wir sind auf dem besten Wege, so zu werden, wie diejenigen, die wir verurteilen und bekämpfen.

Wenn wir aber die weltweite Zunahme an Kriegsereignissen offen anschauen, können wir uns der Herausforderung stellen, die sie für uns und die Menschheit insgesamt mit sich bringen. Ausgehend von der Erkenntnis, daß alles mit allem verbunden ist, könnte wir uns fragen, was wir mit all den Kriegen zu tun haben. Haben wir oder unsere Vorfahren Grenzen von Menschen in den jetzigen Krisengebieten verletzt? Oder haben wir zugelassen, daß in unserem Namen und mit unseren energetischen Mitteln (z.B. Geld) die Grenzen von Menschen in den jetzigen Krisengebieten verletzt wurden?

Das sind Fragen, die sich stellen und auf die jeder einzelne seine Antworten finden kann. Es ist eine Herausforderung, denn man müßte im Sinne vom „circle of all“ umdenken. Wenn ich mit allen anderen im Tiefen verbunden bin, wenn ich als Bürger der Menschheit im Kreis von Schwestern und Brüdern stehe, wenn ich auf der höchsten philosophischen Ebene auch immer der andere bin, dann hat es keinen Sinn, ihn auszubeuten, denn ich beute nur mich selbst aus, oder ihn zu erschießen, den ich erschieße in ihm einen Bruder und damit letztendlich mich selbst.

Wenn wir zum Beispiel zulassen, daß in unserem Namen und mit unseren Steuergeldern Waffenexporte genehmigt werden, unsere Soldaten töten und Regime unterstützen, die ihr Volk unterdrücken, und wenn wir mit unserem Konsumverhalten gedankenlos Konzerne unterstützen, die andere Menschen ausbeuten und anderen Völkern die Bodenschätze stehlen, brauchen wir uns nicht zu wundern, daß an unseren Grenzen Menschen um Asyl bitten, die nichts mehr haben als das nackte Leben, und wenn die Gewalt in unserem eigenen Land zunimmt oder mit Bomben importiert wird.

Durch die momentanen Krisen der Menschheit könnten wir lernen umzudenken. Das „Prinzip der Einheit“, die Einsicht also, daß alles mit allem verbunden ist, kann uns dabei helfen. Doch vergessen Sie nicht: Wenn Sie ohne Auf- und Abwertung im circle of all stehen, dürfen ausnahmslos alle anderen so bleiben, wie sie sind. Keiner anderer braucht sich zu ändern. Man hat nicht die Macht, andere zu ändern. Aber Sie haben die Macht, Ihre eigene innere Einstellung zu gestalten. Wenn Sie in Ihren „circle of all“ of all eintreten, indem Sie jede Auf- oder Abwertung aufgeben und das in die Mitte geben, was Sie haben und gerne schenken, eine Idee, ein Talent, eine Verbindung, finanzielle Mittel oder auch ihre Fähigkeit, Ihren persönlichen Raum aggressiv zu verteidigen und sich als klare, autarke Persönlichkeit zu zeigen, dann geschehen um Sie herum neue Dinge. Win-win-Situationen stellen sich ein. Darüber hinaus werden Sie farbigere Beziehungen erleben und in vielfältiger Form Gemeinschaft erfahren.

Aggression gehört auch dazu. Trauen Sie sich!

Empfohlene Übung:

Ziehen Sie sich für eine halbe Stunde zurück, gehen Sie an einem Fluß entlang, steigen Sie auf einen Berg oder setzen Sie sich in einen Lehnstuhl vor den offenen Kamin. Dann stellen Sie sich zwei Fragen:

  1. Sind Ihre Grenzen in der letzten Zeit verletzt worden?
    Wenn Sie fündig geworden sind, gehen Sie hin und stellen die Grenze wieder her. Machen Sie das klar und deutlich, werden sie aggressiv, wenn Sie das Gefühl haben, daß die Botschaft nicht ankommt. Seien Sie sich aber im Stillen bewußt, daß Sie in der Tiefe etwas mit dem anderen verbindet, und daß diese Verbindung etwas Wertvolles ist.
  2. Haben Sie in der letzten Zeit die Grenze eines anderen Menschen verletzt?
    Wenn Sie fündig geworden sind, gehen Sie hin und entschuldigen Sie sich. Wenn es etwas Schwerwiegendes gewesen ist, üben Sie Wiedergutmachung.

Ihr

Karl-Heinz Rauscher

www.dr-rauscher.de

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